Die Ruhe hat etwas Unheimliches. Die gelben Stiefmütterchen vor der grauen Eingangstür, die Tulpen – ein Bild, wie es in vielen Vorgärten zu sehen ist. Aber dennoch ist etwas anders. Es ist diese Stille.
Wie eine Festung liegt das Haus der Familie Bögerl am Ende einer 300 Meter langen Spielstraße. Kinder sind nicht zu sehen, nicht zu hören. Vor der anthrazitfarbenen Doppelgarage steht der silbergraue Audi 8 von Thomas Bögerl, sein Dienstwagen. Daneben parkt ein Zivilfahrzeug der Kriminalpolizei. Auch die beiden erwachsenen Kinder der Familie, Christoph (24) und Carina (27), halten sich im Haus auf. Im 1. Stock sind sämtliche Rollos heruntergelassen – als würden sie alles Böse, alles Unerträgliche abhalten können, was jede Minute ans Licht kommen könnte.
Vor elf Tagen wurde die Mutter der Familie, Maria Bögerl, aus dem Familienhaus im schwäbischen Heidenheim-Schnaitheim (Baden-Württemberg) entführt. Nach einer gescheiterten Geldübergabe startete die Polizei eine groß angelegte Suchaktion – vergebens. Von der 54-Jährigen fehlt weiterhin jede Spur.
„Frau Bögerl ist so eine nette, bodenständige Frau“, hört man die eher wortkargen Nachbarn sagen. Einige haben Tränen in den Augen, äußern Mitleid mit der Familie, die nun zu Hause auf Antworten warten muss. Vor acht Jahren sind die Bögerls in das große Haus mit der grau getünchten Fassade gezogen, es war ein Neubau damals.
Zuvor hatte die Familie in derselben Straße zur Miete gewohnt, in einem Haus, das dem örtlichen Pfarrer gehört. In ihrem neuen Zuhause – einem Wassergrundstück am Ufer der Brenz – waren die vier glücklich. So sah es zumindest aus. Thomas Bögerl, Chef der örtlichen Kreissparkasse, ist der Öffentlichkeit bekannt. Er überreichte Schecks an die örtliche Sportjugend, ist im Lions-Club aktiv.
Seine Frau Maria gilt im HSB Heidenheim als gute Tennisspielerin, brachte zu Sportveranstaltungen Selbstgebackens mit, kochte Kaffee. Und ihren Garten, „den hatte sie immer tipptopp“, so die Nachbarn.
Eine Idylle, wie es sie nur noch in der Provinz geben kann, mag man denken. Doch seit Mittwoch vorvergangener Woche gilt das Zuhause der Familie Bögerl als Ort eines Verbrechens.
Es ist 11.20 Uhr, als Thomas Bögerl, Vorstand der vier Kilometer entfernten Kreissparkasse Heidenheim, einen Anruf vom Handy seiner Frau bekommt. Nach seiner Aussage sei seine Frau entführt worden.
Die Erpresser forderten 300 000 Euro Lösegeld, das an der A 7 zwischen den Anschlussstellen Heidenheim und Oberkochen deponiert werden solle. Nur kurz habe der 56-Jährige mit seiner Frau am Telefon sprechen können. Ein Ermittler der Polizei: „Frau Bögerl sagte ihrem Mann, sie werde mit dem Tode bedroht.“
Maria Bögerl hatte sich bis zuletzt in ihrem Einfamilienhaus aufgehalten, telefonierte um 10.35 Uhr noch mit ihrem Mann. Kurz danach muss das Verbrechen geschehen sein. Als Fluchtwagen nutzten die oder der Kidnapper den Wagen ihres Opfers, der vorm Haus stand, eine schwarze Mercedes A-Klasse.
Nach dem Anruf der Kidnapper hielt Thomas Bögerl kurz Rücksprache mit seinen Kindern, die sofort aus ihren Studienorten nach Hause kamen, dann verständigte er die Polizei.
Noch am selben Tag, gegen 15.30 Uhr, fährt der Sparkassenchef an den Übergabeort, den die Kidnapper mit einer Deutschlandflagge (155 x 88 cm) markiert haben. Direkt darunter legt er einen schwarzen Müllsack, gefüllt mit 300 000 Euro, doch das Geld wird nie abgeholt. Seitdem hat es keinen Kontakt mehr zu den Entführern gegeben – aber auch kein Lebenszeichen von Maria Bögerl.
Die Polizei startet sofort eine groß angelegte Suchaktion: 250 Quadratkilometer Wald und Wiese werden mit Wärmebildkameras abgeflogen, in 2500 Personalschichten durchkämmen Polizisten mit 300 Suchhunden die Wälder, Tümpel, Abwasserrohre.
Zwei Tage nach der Entführung finden sie das Handy des Opfers im Wald neben der Autobahn, doch die SIM-Karte fehlt. Am Abend, gegen 19 Uhr, entdeckt ein Spaziergänger den schwarzen Mercedes von Maria Bögerl im Hof der Benediktinerabtei Neresheim, etwa 21 Kilometer vom Ort der Entführung entfernt.
Wie BILD berichtet, soll auf dem Beifahrersitz des Wagens Blut sichergestellt worden sein, das eindeutig Maria Bögerl zugeordnet wird. Die Polizei will dies aus ermittlungstaktischen Gründen nicht bestätigen.
Am vergangenen Mittwoch, eine Woche nach der Entführung, richtet die Familie des Opfers schließlich einen 76 Sekunden langen Appell an die Öffentlichkeit. In der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY . . . ungelöst“ flehen Sohn, Tochter und Vater um das Leben von Mutter und Ehefrau. „Bitte helfen Sie, lassen Sie unsere Mama, lassen Sie unsere Mutter freikommen. Bitte, bitte, bitte!“, sagte Thomas Bögerl unter Tränen. Am Ende weinen alle drei bitterlich.
Mit 6,49 Millionen Zuschauern hat die Sendung die höchste Einschaltquote seit 11 Jahren, doch ein entscheidender Hinweis blieb bis heute aus. Von den 1500 Tipps aus der Bevölkerung, die bis gestern Mittag eingingen, schätzt die Soko „Flagge“ bisher nur 650 als ernsthaft. Jedem wird nun intensiv nachgegangen. Die umfangreiche Suche nach Maria Bögerl hat die Polizei am Donnerstagabend eingestellt und prüft nur noch punktuell.
Aber was ist mit Maria Bögerl? Wie lange kann sie irgendwo da draußen durchhalten – wenn sie überhaupt noch am Leben ist?
Nach Informationen der BILD am SONNTAG hat ein Zeuge am Samstagnachmittag auf der A 7 Richtung Würzburg einen roten Transporter gesehen, aus dessen Seitenfenster ein Damen-Seidentuch geworfen wurde. Die Polizei prüft, ob diese Beobachtung etwas mit der Entführung zu tun haben könnte.
Und der Täter? Was für ein Mensch steckt eigentlich hinter diesem perfiden Verbrechen?
Kriminalpsychologen vermuten, dass es sich bei der Entführung um eine Beziehungstat handelt, also dass der Täter aus dem näheren oder weiteren Umfeld der Familie stammen muss. Dafür spricht vor allem die Unprofessionalität der Kidnapper, die offenbar keinen Plan B haben. Hinzu kommt die geringe Lösegeldforderung. Der Täter muss gewusst haben, dass Thomas Bögerl als Sparkassenchef ein Alleinunterzeichnungsrecht über Beträge bis zu 300 000 Euro hat – also genau die Summe, die als Lösegeld gefordert wurde.
Die Kripo hat bei der Sparkasse Heidenheim inzwischen 100 auffällige Bankkonten überprüft, denn die Ermittler wollen nicht ausschließen, dass es sich bei dem Täter möglicherweise um einen (verschuldeten) Kunden handelt, der sich an Banker Bögerl rächen wollte.
Vor dem Haus mit den runtergelassenen Rolläden ist es immer noch still. Zu still. Geht es Mama gut? Lebt sie noch? Es sind diese Fragen, die Ehemann, Sohn und Tochter quälen. Bis die bittere Wahrheit ans Licht kommt – oder die Tür aufgeht, die Mutter davorsteht und alles wieder gut ist.
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